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  Das  Thema des zum ersten Mal ins Deutsche übersetzten Buches „Der Ausflug" („La Randonée") von dem fast vergessenen Symbolisten Saint-Pol-Roux ist die Geschwindigkeit, ein Phänomen, das zur Zeit der Entstehung des Textes  (1932) noch einen Neuheitswert  besaß. 
Was Saint-Pol-Roux dabei fesselte, war die strukturelle Ähnlichkeit von  Geschwindigkeit  und Phantasie: „Ah, die Phantasie,  diese Geschwindigkeit auf dem  Kanapee!". Die Bewegung ist die Signatur  des Geistes, die Mechanik der Autofahrt  erscheint somit als sein materielles  Substrat, als Übersetzung des Denkens,  das wie die Phantasie Ding und Idee an uns vorüberziehen läßt. Ganz nebenbei entfaltet der von den  Surrealisten verehrte  Autor eine aphoristische Phänomenologie der Geschwindigkeit, die trotz aller Begeisterung für die neue  optische Erfahrung  frei ist von futuristischer Fortschrittsbesessenheit. 
  Die Ambivalenz dem Fortschritt gegenüber ist unüberhörbar: „In der  Straße hat man  gewissermaßen die Natur entblößt, damit der Mensch sich hineinstürze, sich hineinwühle, sie  ausnütze und nichts  als das parasitäre Stigma seiner unersättlichen Ausbeutung hinterläßt" 
  Doch zugleich sucht Saint-Pol-Roux nach dem Sinn, der hinter dieser  gefräßigen Bewegung  sich verbirgt; er erschließt sich ihm im Sinnbild eines Wettlaufs zwischen Körper und Geist, der erst  zur Ruhe kommt,  wenn Zeit und Raum in der reinen Anschauung vernichtet sind: „0 Fortschritt! Auf das Rad folgte der  Flügel, auf ihn  folgt die Seele (oder der Geist), die die Tat denkt und ihr das ewige Leben einhaucht. Es gibt  nur eine Bewegung:  die des Denkens". 
Äußerer Anlaß der assoziativen Reiseskizze ist eine Autofahrt von  Camaret, dem Wohnort  des Dichters, nach Brest und zurück. Ein betörender  Sprachzauber, ein Maskenzug an überraschenden Bildern begleitet den Leser auf  der imaginären Reise durch das „verborgene Amerika" des Autors, auf dieser  Exkursion in die  Terra incognita der Phantasie. Die Stationen, Übergänge und Impressionen dieser Fahrt werden zu Fixpunkten  seiner seelischen Topographie, über der Saint-Pol-Roux ein Blitzlichtgewitter an eigenwilligen, Zeit und Raum  aufhebenden  Sprachbildern abbrennen läßt. Im Strudel einer sich alles sinnlich Erfahrbare radikal anverwandelnden Imagination werden wir in die meernahe  Landschaft der Bretagne  hineingezogen, in eine Landschaft, die unter dem illuminierenden Pinsel dieses Autors transparent wird und ihre „Idee" enthüllt. 
Saint-Pol-Roux, den esoterischen Zirkeln der Pariser  Symbolistenschulen entwachsen, versteht das Handwerk der Wort-Alchemie wie alle  Symbolisten, die nit einer subtilen Rhetorik des Geheimisses eine preziöse Dunkelheit des  Sprachausdrucks  zu erreichen suchten. Als  phosphoreszierendes Adernetz durchziehen  Vokabeln der Verheißung und  Entrückung den fragmentarischen Text:  „Schleier", „Zauber", „Geheimnis", „Wunder", „Magie", „Glanz" und Licht". Eine überwältigende Lebensfreude erklärt die Welt zum Tummelplatz der schöpferischen Phantasie, die die Schranken zwischen Heute und Gestern, wischen Materie und Geist in der Blitzgeburt des  subjektiven Bildes aufhebt. 
 
Die Surrealisten, allen voran André Breton, verehrten in dem Einsamen von Camaret den „Meister des  Bildes", der im Willen, alles aus sich selbst zu schaffen, der Vorläufer ihrer eigenen Poetik zu sein schien. Dem heute fast vergessenen Autor wurde als Einundzechzigjährigen 1925 eine „Hommage à Saint-Pol-Roux"  zuteil, mit  der die jungen Surrealisten Breton, Aragon, Leiris, Desnos und Eluard ihn in der Stadt feierten,  die er 1898 aus  Überdruß am Pariser Literatenleben verlassen hatte. In der frischeren, lebensprallen Luft der Bretagne entwickelte Saint-Pol-Roux  seine  religiös gefärbte „L'Art Magnifique" (nach der die Dichtung der direkteste Weg zum  Absoluten ist)  weiter zu einem „Ideorealismus", der die materielle Realität mit den Ideen  der Phantasie  zur „Surnature" kombiniert, um die Grundfrage der Philosophie, die nach der Dichotomie von Geist und  Materie, zu  lösen. 
Saint-Pol-Roux' literarische Expeditionen durch den Dschungel der  Phantasie bis an die Lichtungen des  „Mysteriums" sind als erregendes Lese-Abenteuer anhand der luziden Prosa von „La  Randonée"  nachzuvollziehen. Die Landschaft lebt: sie ist Abdruck und in einer mysteriösen „Correspondence"  zugleich Seelenmotor dessen, der in ihr lebt oder durch sie hindurchfährt: „Fortgehen heißt den Ort ausziehen, den man bewohnte:  seinen Hut des  Kirchturms absetzen, seine Tunika aus Wiesen ablegen, aus seinen Ärmeln der Hügel schlüpfen, seine  Hose aus Pfaden mit den bewohnten Taschen ausziehen"—„Einem Messer  gleich fahren wir  in die Früchte aus Dörfern"—„Diese kleine Brücke von Kerloc'h setzt  uns eine Haube auf,  die gleich wieder verrutscht". 
 
Der Mensch ist der Mittelpunkt der Welt,  er erschafft die Wirklichkeit mit dem  phantastischen „Ideorealisator" seiner Empfindsamkeit. Was der Reisende erfährt, ist die „Welt als Vorstellung", die immer beweglichen Kulissen der eigenen Imagination: „Dabei ist es ganz gleich, welches  Land sich als erstes unserem Dünkel anbietet: wir sind ohne Zweifel seine Erfinder, und auch das zweite entspringt  unserem Verstand. Er erschafft, so scheint es uns, die unbedeutendsten Gegenden, durch die wir fahren. Vor uns hat  dies alles nicht existiert, nach  uns wird es nicht mehr existieren. Der Reisende, der  sich bis dahin unter dem Staube seiner  Gewohnheiten übersah, entdeckt nun —  anstelle eines neuen Kontinents —  endlich sich selbst, vervielfacht in den blank  polierten Knöpfen des ersten Polizisten, der die Papiere verlangt".  
Solch theoretische, aber immer in den verführerischen Duft eines leicht  dahin getupften  Bildes gehüllten Auslassungen stehen neben zündenden Aphorismen, in denen der Esprit dieses Autors sich zu kristallisieren scheint: „Die  Jugend bricht auf,  doch das Alter kommt an"—„Der bewegliche Vorsprung des  Lebendigen beruht auf dem unbeweglichen Rückstand der Dinge"—„Die moderne Mechanik ist der Karneval der Vorgeschichte"—„Sind wir anwesend, nimmt uns keiner wahr; sind wir abwesend, sieht uns jeder". 
 
Der Höhepunkt dieses Buches, das in einer Fieberkurve aus poetischen  Einfällen von  Glanzlicht zu Glanzlicht eilt, ist die großartige „Vison von, Brest", mit der Saint-Pol-Roux die Einlösung  seines „ideorealistischen"  Anspruchs auf wunderbare Weise gelingt. Unter dem hingerissenen Blick des Ankommenden  (das Ankommen:  welch großes Thema bei diesem Autor!) formiert sich Brest zum er-spürbaren Leib aus Gegenwart,  Vergangenheit und  Zukunft, „die halluzinatorische Einheit dieser Stadt". Dieser mit rhetorischem Glanz vorgetragenen  Passage kann man paraphrasierend nicht gerecht werden. Man muß sie lesen, lesen und wieder lesen, wie all die  Randnotizen,  Aperçus, Sentenzen und Gedankensplitter dieses Buches. 
Daß die Lektüre der vielschichtigen Werke des so lange vergessenen  Dichters uns weiter  begleiten kann, ist das Verdienst des Rolf A.Burkart Verlages, der den Wagemut hat, eine auf 16  Bände angelegte  Werkausgabe (der nächste Band wird im Herbst erscheinen) zu edieren. Joachim Schultz und Chantal Strasser haben sich mit der  Übersetzung dieser esotorischen Texte eine schwierige Aufgabe gestellt, die gerade wegen  der dunklen Bilder  und Wortspiele fast unlösbar scheint; auf die Übersetzung der Gedichte darf man gespannt sein. 
Die Edition ist auf zehn Jahre geplant, und noch ruhen zahlreiche  unbearbeitete Manuskripte bei den Nachlaßverwaltern. Nachdem in den siebziger Jahren  Saint-Pol-Roux in  Frankreich wiederentdeckt worden ist und seine Werke seit dem in neuen Ausgaben zugänglich gemacht werden, dürfen wir die deutsche  Übersetzung als  einen Akt der Wiedergutmachung an den Autor werten, der an den Folgen einer Plünderung seines Hauses durch  deutsche Soldaten 1940 gestorben ist. 
Helmo Schwilk  
  
  
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